"der sinn des lebens ist das leben
sinnvoll leben ist glücklich sein
Glücklich sein ist glücklich machen glücklich machen ist sich glücklich machen sich glücklich machen ist
andere glücklich machen
kommunisten handeln aus egoismus.
Das glücklich hört nicht auf.
Es kann still sein oder laut
Alles sieht aus wie alles."
ronald m. schernikau
Frühherbst
die spätsommerzeit segelt durch das gezirkelte karree des hinterhofs, der wind frischt angenehm auf und bittet plastik, staub und blätter zum tanz. Die sonne steigt an der horizontlinie und hellt die perspektiven ocker auf. Odra schaut aus dem küchenfenster im 2. stock runter auf die mülleimer, von denen aus zwei knirpse den angrenzenden zaun überklettern, in den nächsten block.
Sie wohnt hier seit fast 20 Jahren und diesen blick aus dem fenster nennt sie, ihr goldenes viereck. In ihm prasselt und drängt besonders im sommer alles zusammen, was einige dutzend nachbarsleute in vielleicht 50 wohnungen von sich preisgeben.
Odra kam aus minsk nach berlin, als sie 14 war. Ihre mutter olga hatte seinerzeit eine stelle als kinderäztin an der charité bekommen und war nun rentnerin und witwe.
Olga kobylin wohnt unten im erdgeschoss. Ihr verhältnis ist innig.
Odra verrät sie beim schachspielen immer noch tricks und finten, je paradoxer, desto besser und wenn sie funktionieren, lachen sie erfüllt. Durch ihre tochter bleibt olga in der welt der jungen und halbwegsjungen immerhin, als zuschauerin, eingehegt.
Odra ist letztes wochenende 52 jahre alt geworden. Sie ist zierlich, schnellt die treppen hoch, wie andere sie hinuntergehen.
Heute nicht.
Sie schleicht am frühen abend die knatschenden dielen hoch, auf dem treppenabsatz linst sie durch die bunten kleinen bleiglasfenster, dem letzten rest jugendstil in neukölln. Das tut ihr sonst gut, den hof weinrot oder türkis zu sehen, heute ist es ihr, wie ein blick in ihren käfig. Als sie die wohnung aufschließt, sieht sie schon hotte, in der diele, ihren lebensgefährten und leider aktuell, eher mitbewohner.
Im zeitmeer der jahreszeiten hat es sich zwischen ihnen ausgeliebt, aber sie bleibt oder er beibt, weil ihnen nichts besseres einfällt, als zu bleiben. Dabei haben sie zusammen alexandra kollontai gelesen, die ihnen mitgab, daß ideale des eigentums, sich nicht im zu kurzem sprung richtung partnerin realisieren ließen, sondern genau das gegenteil nottat, sich jenseits materieller zwänge und deren folgender emotionalen sonderbarkeiten, sich frei nach neigung und liebe zu bewegen. Sie produzieren nichts mehr zusammen und so verbringen sie, relativ unbeholfen, einfach nur noch die vertraute zeit. Sie küssen sich unkonzentriert, sie schlafen schon lange nicht mehr zusammen.
Sie teilen ihre erschöpfung, schulter an schulter, vor den monitoren digitalis.
Odra hängt ihre jacke an die garderobe, geht schlurfend in ihr zimmer, vom tag erledigt. Hotte kommt in den flur und fragt halblaut: "alles gut bei dir?" "nein, hotte, ich war bei anna, im krankenhaus. Ihr geht es sehr schlecht."
Anna. Die schöne anna, mit ihrem hellen lachen und ihrer wieselgeschwindigkeit, die trotzdem exakt so war, ob sie abtrocknete, strickte, redete. Und selbst wenn anna schwieg, ging die zeit schnell rum, denn man hatte zeit, sich ihr gesicht einzuprägen, die unruhe (in) ihre augen zu schauen. Immer hielten sie tuchfühlung.
Das odra heute kaum die treppen hochgekommen ist, liegt an ihrer anna-anhänglichkeit, die sie zurückzieht im gehen. Odra und anna haben heute am paul-lincke ufer gesessen, rücken an rücken-ein freundschaftsritual- fingerverstrickt, das gras tastend auf der wiese.
Der september hat nochmal so richtig auf die tube gedrückt und wärme vom himmel gesendet. "odra, ich muß dir was sagen", hat anna den satz begonnen. "meine liebste, es tut mir leid, der krebs ist zurück und es ist nun meine letzte krankheit." Früher hat odra, in ähnlichen situationen, immer mit ihren kleinen fäusten auf den rücken ihres bruders getrommelt, bis ihre wut schwächer wurde. Meergrün sind ihr annas augen zum abschied vorgekommen.
Odra schließt ihre zimmertür, nachdem sie hotte gebeten hat, mal nach olga zu gucken. Sie legt sich auf ihr bett und schläft ein.
Hotte setzt sich an den kleinen küchentisch, vor dem fenster zum hof und öffnet einen brief. es dämmert schon. der brief ist von der hausverwaltung und er weiß um die entscheidene runde, die ihm jetzt bevorsteht. er liest die brocken quer, 2.abmahnung,..mietrückstand 1450,- euro...,...haben wir gerichtliche anordnung eingeleitet...
Wenn dann schlagen sie immer gleich doppelt zu, selbst wenn man sofort bezahlen würde, schrauben sie den deckel dichter.
Er knipst eine pistazie auf, versenkt den brief in einen schweigenden zustand, er hat einfach keine lust mit odra an diesem freitagabend über ihr wohnexperiment in einen streit zu trudeln, auf dessen ortschild "misere" steht. Er ist schlagkaputt, nicht davon, sondern von seinem tageswerk. Immer geht er morgens ganz guter dinge zur arbeit und danach fällt es ihm schon um 4 uhr schwer, nicht das erste bier zu trinken.
Hotte ist landschaftsgärtner, er ist schon als kind am liebsten draußen gewesen und nun legt er beete an, seit zwei monaten, am treptower park, plus wegebau, einkürzen von stecklingen, staudenvermehrung. Er kann mit dem rad zur spree fahren und hofft noch ein paar tage mehr, am ufer dort tun zu haben. Sie bekämpfen auch ratten, schrauben explodierte mülleimer ab und sorgen für die bänke in den parks. Heute haben sie ein paar hundert hainbuchen mit zentimeterband eingekürzt. Hotte hat sich in den drei regen-,und schneearmen jahren gewundert, wie gut dieser baum, zukunftgewand durchhält, in dürren wochen. Hotte ist nur vier jahre älter als odra, aber allmählich würden die leute denken, er sei ihr vater, so durchfurcht ist seine frühere schöne gestalt und odra wird, vorallendingen wenn sie lachte besonders, überhaupt nicht älter.
Als er gegen zehn uhr aus dem bad kommt, ihre tür ist sperrangelweit offen, sieht er odra in ihrem zimmer auf dem bett liegen, die hände hinter ihren kopf, in ihr haar gefaltet. ihre brust hebt sich und spannt unter ihrer hellen, engen bluse. Er bleibt stehen und hält sich am türrahmen fest und sie bemerkt seine ankunft. Wie nebenbei klingt odras "komm", für ihn. Er geht ins zimmer und will das fenster zumachen, da sagt sie: "laß", und als er zögert, setzt sie nach: "ich brauche luft". Odra erhebt sich vom bett, kommt zu ihm hin, sieht ihn an. Sie nimmt langsam seine hände und legt sie auf ihre brüste. Dann finden sich ihre münder endlich wieder, bereit zu küssen und zu scherzen. "zieh´ mich aus!", flüstert sie mehr. Er hebt ihr unterhemd nach oben, sie hebt ihr becken und er streift ihr das letzte schöne stück stoff ab. als sie nackt ist, öffnet sie nach und nach die knöpfe seiner jeans. Im bett legt sie sich auf den bauch und seine finger tasten sich allmählich zu ihren oberschenkeln hoch. Er spürt, wie sie sich ihm öffnet. Die melodie ihrer liebe tönt fragil im echo, an den wänden des hinterhofs entlang, anfang und ende, sturzflug und emporkrabbeln, dann wieder stille und der folgt, ein schluchzen. der hof überträgt zum finale alles live, bis odra lacht. Dieses lachen legt sich auf die fensterbänke. Sie steht auf und macht das fenster zu. Sie legt sich wieder zu ihm. Er sieht jetzt ihre dunklen augen, die weinen. "Was ist?" fragt er etwas hilflos. Odra antwortet nicht gleich. Dann kaum wahrnehmbar: "anna hat wieder krebs. Inoperabel, sie macht auch keine chemo mehr, ein rezidiv."
Hotte antwortet nicht. Ihm fällt nichts ein. Eben noch, fühlt er sich versöhnt mit der welt und nun sieht er nur, eine sich neu öffnende tür und der neue raum verheißt wieder mal, abschiednehmen. Er verschließt seine hilflosigkeit hinter einem etwas eingefrorenen lächeln. Besonders gut steht es ihm nicht, denkt odra.
Unter der wohnung von odra und hotte lebt manni wehmayer, er ist frühpensionär. Als er hört, wie sich die beide über ihm lieben, knurrt er vor sich hin: "mich guckt keine mehr an." doch wie aus dem nichts, kommt ihm eine meldodie von mireille mathieu in den kopf und er summt sie: "ich fühl mich gut, so gut, dafür merci chéri..." und kichert wie ein schrat. Manni denkt an dorotta, seine große liebe, in seiner steilen zeit. er macht die kiste aus, geht ans fenster und sagt vor sich hin: "mensch manni, du bist doch kein alter laubhaufen," und er fängt an zu lächeln. Er holt sein letztes bier aus dem kühlschrank und nimmt eines seiner liebsten bücher aus dem regal, "jenseits von eden" von john steinbeck. Das lesebändchen liegt bei dem streit, den der alte ire samuel vom zaun gebrochen hat und manni laß laut, nur für sich: "ich habe mir geschworen, genuß nie als sünde anzusehen, ich habe freude am forschen." Nach ein paar seiten, legt er das buch vorsichtig beiseite und geht an seinen kleiderschrank. Holt den silbergrauen anzug raus, das weiße hemd und die stahlblaue krawatte. Manni trinkt einen langen schluck und denkt angeregt, na ja, ein mann biste ein lebenlang. irgendwann ist er übriggeblieben, in den miesen zufällen der chancenvergeberei. Dann kam das doppelkinn und ein blöder dicker bauch dazu und keine, die er noch begehrt, will ihn noch fünf minuten an der backe haben. Er räuspert sich und dreht sich eine zigarette. Aber dann fällt ihm ein, könnte ich kavalier bleiben. Auch nicht schlecht, lotse in den straßen und nischen dieses kiezes, in dem ich gelandet bin, wie ein müder wal, der aber immer noch ein toller hering sein will. Bevor er einschläft, beschließt er, morgen mal bei frau schwan zu klingeln, im 3.stock, vielleicht hat sie ja auch etwas gehört.
Frau schwan ist 91 jahre alt und lebt im haus, seit ihrer jugend. Wieviele jahre das sind, hat sie nicht gezählt, weil es egal ist, denn es ist einfach fast ein ganzes leben. Sie ist um 10 uhr vom sofa aufgestanden und geht, wie immer noch zum küchenfenster, um es zu schließen. Da hört sie ganz gut eine melodie, so düster prophezeiungsvoll und gleichzeitig so hell und flirrend, daß sie innehält. Das tuch der liebe wird ausgebreitet, sie stöbert in ihren zettelkästen, in dem sie ihre lebenszeit archiviert hat. Die melodie sehnt sich nach dem höhepunkt und doch verweilt sie stetig und anmutend, in ihrer anbrandung, auf sie. Frau schwan gehorcht ihren ohren und bereut nichts in ihrem leben. Zum hof raus sind die wohnungen alle klein, die küchenfensterbank ist für alle der reservebalkon.
Am nächsten morgen klopft manni dreimal an ihre tür und bringt ihr ihren kurier. "guten morgen, guter mann," begrüßt sie ihn. Als er ihr die zeitung gibt, legt sie ihre hand auf seinen arm. "und?" sagt sie. Manni lacht wie ein schelm. "na ja", beginnt er, "ohne liebe geht alles zugrunde." Frau schwan lacht unverblümt und freut sich über ihr offenes geheimnis. Manni durchströmt es wohlig, diese kecke alte frau, denkt er, wie frei sie ist. Er sieht aus wie vor einem rendezvous, leider hat er nur einen schnöden termin bei der sparkasse, wegen seines dispo.
Odra ist schon aus dem haus, sie arbeitet als altenpflegerin, in lichtenberg. Um 5 uhr rösselte der wecker die beiden wach. Hotte singt seit langer zeit mal wieder vor sich hin, ein song von rio, über einen jungen am fluß. Er hat die zahnbürste im mund, als es klingelt. Er hört nur mit halben ohr zu. Aber es hat nunmal geklingelt. Er trocknet sich ab und geht mißmutig zur wohnungstür, als er sie öffnet, traut er seinen augen nicht. Draußen stehen drei typen und der kleinste stellt sich vor: "morgn. erlkönig, gerichtsvollzieher." Hotte versucht, zeit zu gewinnen, nickt kurz. Dann sagt er schroff: "weisen sie sich erstmal aus!" erlkönig öffnet seine tasche, zeigt kurz seinen dienstausweis und gibt hotte den gerichtsschrieb mit pfändungsbescheid. "herr bluhm, es bleibt ihnen auch die möglichkeit, der sofortigen barkasse", setzt er hinzu. Hinter ihm drücken sich zwei junge beamte rum, als ob sie so ganz zufällig vorbeigekommen wären. Jetzt fiept ein funkgerät und hotte wird plötzlich ganz ruhig. "ich zahle bar", sagt er erneut schroff. Erlkönig tut oder ist überrascht. "gut, und warum haben sie das nicht eher getan?" fragt er gezinkt im timbre von steinmeier. Hotte lacht: "herr erlkönig zu steinmeier, ich habe nicht gezahlt, weil ich manchmal bescheuert bin." erlkönig-s-klasse nickt nur resigniert und erhebt seine stimme mal kurz. "die legitime forderung der wohnungsgesellschaft "häuser mit herz" beträgt 1450,- euro. Ratenzahlung ist nicht möglich." Hotte lehnt die tür an und geht in sein schlafzimmer, sucht den karl mickel lyrikband raus, wo er sein geld versteckt. Sein erspartes, aufgehobenes, seine option, hier alle und alles stehen und liegen zu lassen. In den letzten zwei jahren hat er nach jedem trübseligen streit mit odra, ein oder zwei scheine, aus seiner brieftasche gefischt und sie mickel anvertraut. Als alberne selbsttherapie nach seinen bauchlandungen. Nun packt er seinen joker aus, geht zurück zur wohnungstür, öffnet sie und zahlt erlkönig tausendfünfhundert in die hand, der sie wiederum überrascht nochmal nachzählt, ihm einen 50ger retour gibt und hottes unterschrift fordert. erlkönig ist wieder zu seinen leisten zurückgekehrt und sagt zum abschied jovial, denn wer möchte schon das sein, was er wikrklich ist:
"läuft doch, herr bluhm, läuft." Die polizisten fangen an zu rauchen. Als die drei weg sind, fällt hotte ein meteorit von der seele.
Sein freifahrtschein ist flöten, weil seine liebe zu odra entflammt ist, wie die büsche bei dylan thomas es tun. Er wußte genau, wenn er sich aus gekränkter eigenliebe mit der schlange verabredet, die ihn aussaugt, sich mit irgendwas verabredet, was ihm gerecht und schön erscheint und den menschen schmäht, der ihn liebt, wird sein leben ein desaster und wäre nicht mehr der mühe wert. Odra war die haltelinie in seinem dasein, er mußte lernen, zu begreifen, wie sie ihn liebt.
Als er in die küche zurückkommt, fängt er an zu spülen. Er räumt das geschirr in den schrank, zieht sich erstmal richtig an, schmeißt die haustür zu und geht wie immer morgens guter dinge, die treppe runter und klingelt bei olga. Sie öffnet mit ihren gewöhnlichen, herrlichen "Huuch", und leitet mit ihrer überaschungsgeste, wie immer, einen guten empfang ein. Olga kobylin ist hier tatsächlich alt geworden, weil sie nicht mehr die kraft hatte, zu ihren leuten zurück zu gehen, obwohl sie immer öfter auf ihre herkunft zu sprechen kam. Hotte brüht kräutertee auf und olga fragt ihn aus. "warum war die polizei bei euch? Du hast doch nicht etwa was angestellt, hotte?" Als sie am tisch sitzen und den heißen tee schlürfen, erzählt ihr hotte die ganze geschichte, alles. So war ihr verhältnis. Olga sitzt da und schaut ihn genau an. Den kopf im nacken, die hände verbändelt, spricht sie wie zu sich selbst: "hotte, du sprichst über dinge, die sich einfügen in eine triangel: tod-liebe-geld und die umschaltpunkte durch und in diesem dreieck muß man einfach aushalten und solidarisch und bereit sein, die sich bietenden besten chancen im leben zu nutzen,...sind nicht so viele...", sie stockt und schließt noch wie üblich an: "man sollte es wenigstens versuchen." Sie fängt an zu lachen, bei ihren letzten worten und hotte nimmt sie einfach in den arm. In ihrem kräftigen gesicht liegt ein kurzer anflug von feierlichkeit, doch dann denkt sie an anna, erschrickt und wendet ihren kopf zum fenster.
Draußen vor dem haus sitzen gina und rico, auf der alten bank. Beide noch längst nicht 20. Sie warten mit ihrem einkauf auf ricos kleinen bruder. Immer ist er weg. Sie wohnen seit einem halben jahr hier. Hier, auf der bank, sitzen sie gerne. Gina sagt plötzlich: "du, gestern nacht, hatte ich einen albtraum, als ich eine zeitung kaufen wollte, wußten schon immer verkäuferin oder jemand in der schlange, welche zeitung ich kaufen wollte, und so ging das die ganze zeit. alle meine gedanken wurden von allen frei gelesen. Jedenfalls bin ich aufgewacht, weil ich gehört habe, wie leute liebe machen...deshalb weiß ich ja nur den traum." Rico guckt sie lächlend an.
"und?" fragt er gedehnt und sie antwortet harsch: "nix und!"
Jetzt fängt es an zu regnen, ricos kleiner bruder steht da, mit drei taubenfedern in der hand und
ricos gesicht entspannt sich.
Hark Altenberga
14.dezember 2021