- Selma Sucht
Das Geschenk
Innen Enge. Gedankenrauschen.
„Das mit Jürgen, habe ich über Gerd erfahren.“ flüsterte Ede.
„Oooooh, seit wann ist Gerd denn so eine Plaudertasche?“ schnaufte Charlotte - Alexis.
„Na ja, ich denke es wird immer einsamer um ihn. Merkst Du ja, da unten fallen sie raus und kommen nicht mehr wieder. Ja ja diese schöne kleine Freiheit... Gerd wird immer redseliger und ein anderer würde schweigsamer werden.“
Charlotte - Alexis schüttelte sich, ist ja auch egal! Jürgen ist also weg. Schade, der Jürgen gehörte schon zu den witzigeren hier drinnen, sehr schade.
Charlotte - Alexis und Ede bekamen wieder Kopfschmerzen, weil es wieder ruckelte wieder und wieder jeden Tag. Sie wurden dann hin und her geschleudert. Aber sie lächelten sich trotzdem zu. Tapfer sein und Durchhalten.
Da war diese schwitze Hand wieder. Und diese grabbelte an ihm. Igitt. Jürgen fühlte sich so was von ausgeliefert. Er wollte wieder zurück! Klar war jetzt mehr Platz, als in der engen Gemeinschaft. Aber hier war es dunkler. Und dieses Ganz - körper befummeln, machte ihn fast wahnsinnig.
„Lenke dich ab.“ dachte er. „Was kannst du hören?“ Stimmen. Gewirr. Klappern. Irgendwelche komischen Unterhaltungen. Da war auch Ruckeln und Rattern, aber irgendwie sanfter als er es sonst kannte. Als würde er sich fortbewegen. Konnte das möglich sein?
Alles um sie herum war beschäftigt. Keiner wollte mit ihr sprechen. Dabei war da soviel zu erzählen. Ihre Mutter lass ein Buch über Dimitale Dranswurmnation, oder so ähnlich. Das hatte sie ihr noch sagen können, bevor sie in ihr Buch versank und Schluss war mit Kommunikation. Und Juri ihr Brechbruder telefonierte. So, wie er eigentlich immer telefonierte. Ätzend! Immer wieder versuchte sie was zu sagen und hoffte auf Resonanz ihrer Familie, aber es war aussichtslos. Vor Langeweile belauschte sie Juri wie er telefonierte: „Aaaa - lteeer, ja ne findeste auch wa. Nee wo ich denke, is der blöd! Ej voll ultra dreist!!! Und dann fragt er mich doch tatsächlich nach der Zusammenfasung. Ej, der steht vor 8 Uhr nicht auf. Ich so, alter es ist Prüfungsphase. Wann lernst du? Er sagt nichts. Ich kann es nicht fassen. Ja bin noch mit Family, fahren grad zurück, nice … Ja lass ma treffen nachher. Hast du die letzte Vorlesung angeguckt? Alter, ich soll chillen, voll komplex man. Kannst du mal deine Zusammenfassung mit bringen, also nur zum Vergleich?!“
Sie hatte keine Lust mehr, das langweilige Zeug ihres Bruders zu belauschen, viel verstanden hatte sie auch nicht oder wollte es nicht.
Dann erzählte sie es sich eben selbst!! Aber leise.
„Ich mag die Teller - Rutsche. Ja, ich auch. Die sah auch so verdammt lustig aus, und alle haben gebrüllt nur ich natürlich nicht, ich hatte keine Angst. Aber die Schanzen - Rutsche darf man auch nicht vergessen, die is auch toll. Wie man mit hundertachtzig Sachen wieder runter plumpst, voll geil. Da wird mir auch nich schlecht von.“
„Die Looping- Rutsche fetzt aber auch.“ Zart - wild kam dieser Satz vom anderen Vierer – Platz neben ihr. Da saß ein Junge, bisschen älter als sie. Und sah von seinem Handy auf. Hatte jetzt eigentlich jeder so ein Ding? Trotzdem er zu zocken schien, hatte er ihr geantwortet! Sie lächelten sich für Sekunden an. Dann sah der Junge wieder auf sein Display. Heimlich betrachtete sie ihn. Sie hatte ihn vorher gar nicht wahrgenommen. Alle Unbekannten sahen für sie gleich aus. Aber dann fiel ihr doch etwas an ihm auf. Seine Stirn hatte ein Muttermal, das wie ein Moped aussah, irgendwie lustig!
Für diesen einen Satz, wollte sie ihm etwas schenken. Sie spielte die ganze Zeit mit etwas in ihrer Tasche, ihre Hand schwitzte. Ja DAS wollte sie ihm schenken, der is doch noch gut. Aber sie traute sich nicht. Sie traute sich einfach nicht. „Mathilde wir müssen aussteigen! Komm.“ Sie musste schon seltsam abwesend gewirkt haben, sonst hätte ihre Mutter sie nicht an die Hand genommen und sie aus dem Zug gezerrt. Das ist schon Jahre nicht mehr vorgekommen, wie peinlich!
Als sie mit den Füßen auf dem Bahnhofsboden stand, bereute sie ihr Zögern. Und sie spielte wieder mit ihrer Hand, in der Tasche herum.
Alt. Zerbrochen. Kaputt. Nichts ist mehr frisch an ihm. Das ist also die vielzitierte Freiheit von der Ede, Charlotte- Alexis oder wie sie alle hießen, erzählt hatten. „Leckt mich doch alle.“ dachte er.
„Ich wette, die hocken immer noch brav im Kasten. Haben die anderen immer hübsch vorgelassen. Clever eigentlich. Freiheit dauert sooooooooooooo lange. Und Freiheit ist eigentlich soooooooooooooooooooo langweilig.“
Der Zug hält.
Menschen steigen aus.
Manche langsam, manche schnell.
Ein Mann neben Mathilde macht es langsam.
Mathilde macht es schnell.
Es ist nur ein kurzer Moment!
Sie begegnen sie sich.
Mit den Augen.
Aber sie gehen aneinander vorbei.
Sie kommt von einem Kongress angehender Ärzte. Sie vermisst ihren Mann und ihre beiden Kinder.
Er ist noch ganz fertig von der mehrtägigen Wanderung mit Freunden und freut sich darauf, dass niemand zu Hause auf ihn wartet.
Doch dann passiert es trotz dem.
Was einfach vor fünfzehn Jahren so abrupt endete.
Mathilde erkennt trotz des schnelllebigen Moments und der Hektik, dem das Aus - und Einsteigen am Zug inne wohnt, sofort sein Muttermal an der Stirn. Doch sie geht weiter. Dann zuckt es in ihr. Sie hat ihre alte Jacke an, wie immer. Ihr Mann hat sie schon des öfteren damit aufgezogen. Ihre Hand gleitet in ihre Tasche, sie hat IHN immer aufbewahrt. So lange. Sie findet es eher romantisch als eklig.
Sie bleibt stehen. Dreht sich um. Geht zurück. Diesmal ohne Wenn und Aber. Und tippt dem Mann an die Schulter. Der Mann dreht sich um. Ja, denkt Mathilde das ist eindeutig das Muttermal. „Looping- Rutsche.“ schallt es aus ihr heraus. Der Mann schaut irritiert. Aber irgendetwas an ihr wirkt vertrauenerweckend und vertraut. Er weiß aber nicht, was genau es ist. „Vor fünfzehn Jahren, im Zug nach D. Du hattest als Einziger zugehört! Du hast damals meinen Tag gerettet. “ Mathilde holt was aus ihrer Tasche. „Den wollte ich dir damals schon schenken.“ Der Mann nimmt das Geschenk, obwohl der Blick in seinen Augen verrät, das ist wohl eine Irre.
Er schaut auf das Geschenk.
Es ist ein Himbeerlolli.
Er liebt Himbeere.
Aber es ist ein sehr, sehr alter Himbeerlolli.
Jürgen landet auf zerkauten Kaugummis, alten Bananenschalen, Zigarettenstummeln, leeren Blechdosen, Bonbonpapier und anderem Müll... Jürgen regt sich nicht auf ... Was sollte man sonst auch machen?